Es
geschah in den alten Tagen Roms, als ein Sklave mit Namen Androcles seinem
Herrn entlaufen und in den Wald geflohen war. Er wanderte dort eine lange
Zeit umher, bis er müde, verzweifelt, und vor Hunger ganz schwach war.
Da plötzlich hörte er in nächster Nähe einen Löwe
schrecklich ächtzend und brüllen. Androcles wollte davon rennen,
doch müde wie er war, stolperte er über eine Wurzlen und blieb wie
gelähmt liegen. Als er versuchte wieder aufzustehen, sah er den Löwen
auf sich zukommen. Das Raubtier hinkte auf drei Beinen und hielt die eine
Vorderpfote vor sich ausgestreckt. Androcles war in der Verzweiflung; er hatte
nicht mehr die Kraft aufzustehen und wegzulaufen, und da war der Löwe,
der sich ihm näherte. Aber, als das große Tier bei ihm ankam, anstatt,
ihn anzugreifen, ächzte und stöhnte der Löwe, und schaute Androcles
nur an. Androcles sah, daß des Löwens rechte Tatze mit Blut verschmiert
und sehr geschwollen war. Als er genauer hinsah, bemerkte er einen grossen
Dorn, der in der Pfote steckte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog
dem Löwen den Dorn aus der Tatze, der vor Schmerzen aufbrüllte.
Sobald er merkte, dass seine Pein vorüber war, kroch er vor Androcles
als Zeichen seiner Dankbarkeit. Und, anstatt ihn zu fressen, brachte er ihm
ein junges Reh, aus dem sich Androcles eine Mahlzeit zubereitete. Seit diesem
Tage an teilte der Löwe seine Beute jedesmal mit Androcles, der in das
grosse Tier ziemlich vernarrt wurde.
Aber
eines Tages marschierten einige Soldaten durch den Wald und fanden Androcles.
Und da er nicht erklären konnte, was er dort suchte, nahmen sie ihn
gefangenen und führten ihn zurück zu der Stadt , von der er geflohen
war. Hier fand sein Herr ihn bald und brachte ihn vor Gericht. Und er wurde
zum Tod verurteilt, weil er von seinem Herrn geflohen war. Zu jener Zeit
war es Brauch, Mörder und andere Verbrecher im Circus den Löwen
zum Frasse vorzuwerfen, damit, während die Verbrecher bestraft wurden,
die Öffentlichkeit das Schauspiel eines Kampfes zwischen ihnen und
den wilden Tieren genießen konnte. So wurde Androcles verurteilt zu
den Löwen geworfen zu werden, und am festgesetzten Tage wurde er in
die Arena geführt, nur mit einer Stange bewaffnet, um sich vor dem
Löwen zu schützen. An diesem Tage gab der Kaiser selbst das Signal,
den Löwen herein zu lassen. Aber als dieser aus seinem Käfig heraus
kam , und sich Androcles näherte, was denkst Du passierte dann ?? Anstatt
ihn anzuspringen, schwänzelte er um ihn herum, und machte keine Anstalten
ihn anzugreifen. Es war selbstverständlich der Löwe, den Androcles
im Wald getroffen hatte. Überrascht von dem merkwürdigen Verhalten
des Löwens, liess der Kaiser Androcles vor sich rufen und fragte ihn,
wie es geschah, daß dieser bestimmte Löwe so zutraulich war.
So erzählte Androcles dem Kaiser, was damals im Wald geschehen war.
Daraufhin begnadigte der Kaiser Androcles und befahl seinem Herrn, ihn freizulassen.
Der Löwe wurde zurück in den Wald gebracht, wo er seine Freiheit
nocheinmal geniessen konnte.